Viskoelastisches Werkstoffverhalten: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 11. Juli 2024, 09:11 Uhr
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Viskoelastisches Werkstoffverhalten
Arten der Deformation
Unter Viskoelastizität versteht man das Auftreten von partiellem elastischen und viskosen Werkstoffverhalten unter einer beliebigen mechanischen Beanspruchung. Aufgrund dessen zeigen derartige Werkstoffe (Festkörper) oder Schmelzen bei Deformation typische Merkmale von Flüssigkeiten als auch Festkörpern. Im Allgemeinen ist der viskoelastische Effekt, d. h. der Anteil von elastischem zu viskosem Verhalten, zeit-, bzw. geschwindigkeits-, belastungs- und frequenz- sowie natürlich auch temperaturabhängig [1, 2]. Im Gegensatz zu metallischen Werkstoffen, wo dieses Verhalten erst bei stark erhöhten Temperaturen beobachtet werden kann, tritt das viskoelastische Verhalten bei Kunststoffen schon bei Raumtemperatur auf und besitzt damit ein starken praktischen Einfluss auf das Steifigkeits-, Festigkeits- und Deformations- als auch Zähigkeitsverhalten dieser Werkstoffe. Das Werkstoffverhalten von Kunststoffen ist damit je nach Typ des Kunststoffes von drei wesentlichen Deformationsanteilen geprägt, wobei die elastische und viskoelastische Verformung auch das Gebiet der Gleichmaßdehnung im Zugversuch bis zur Streckgrenze umfassen:
- elastische Deformation (linear-elastisch oder nichtlinear-elastisch),
- viskoelastische Deformation (linear-viskoelastisch und nichtlinear-viskoelastisch (siehe: Elastizität) und die
- plastische Deformation.
Deformationsbereiche
Unter Voraussetzung eines einachsigen Spannungszustandes z. B. im Zug-, Druck- oder Biegeversuch treten bei Kunststoffen typische Deformationsmechanismen auf, die bei Thermoplasten die Definition von Deformationsbereichen gestattet:
- die reversible linear-elastische oder nichtlinear-elastische Deformation, die einer Vergrößerung der atomaren Abstände und/oder der Änderung der Valenzwinkel im Makromolekül entspricht, wobei die elastische Verformungsenergie simultan gespeichert wird,
– reversible Deformation < 0,1 % Dehnung,
- die linear-viskoelastische Deformation beruht auf molekularen Umlagerungen ohne Aufhebung der Verknüpfungen des Molekülverbands bei gleichzeitiger Speicherung der elastischen Energie,
– reversible Verformung < 0,5 % Dehnung, zeit- und temperaturabhängig
- die nichtlinear-viskoelastische Deformation beruht auf der Aufhebung von Verknüpfungen des Molekülverbands (Mikroschädigung),
– irreversible Deformation > 0,5 % Dehnung, zeit-, temperatur- und lastabhängig
- die plastische Deformation beruht auf molekularen Gleit- und Deformationsprozessen bis zum Versagen,
– irreversible Deformation > Streckgrenze σy, zeit-, temperatur- und belastungsabhängig
Gültigkeitsgrenzen
Der Gültigkeitsbereich spezieller thermoplastischer Kunststoffe umfasst somit nur geringe Dehnungen von ca. 0,1 % bis maximal 2 % z. B. für Polyvinylchlorid (Kurzzeichen: PVC), bei glasfaserverstärkten Gießharzen bis 0,5 %, bei Polyethylen (Kurzzeichen: PE) kleiner 0,1 %, bei Polycarbonat (Kurzzeichen: PC) bei 23 °C < 1 % und bei 130 °C < 0,5 %. Praxisnahe Belastungen von Kunststoffen im Einsatz liegen jedoch nur teilweise innerhalb dieses Bereiches. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass die praktischen Gültigkeitsgrenzen der linearen Viskoelastizität bei polymeren Werkstoffen unterhalb 1 % Dehnung und bei Polymerschmelzen bei ca. 100 % liegen [1]. Diese Grenzen werden allerdings stark durch Füll- oder Verstärkungsstoffe beeinflusst, wobei mit der Zunahme des Füllstoffgehalts ebenfalls eine Erhöhung dieser Deformationsgrenze eintritt.
Eine exakte bzw. näherungsweise mathematische Beschreibung des Werkstoffverhaltens von Kunststoffen ist nur für den elastischen und linear-viskoelastischen Bereich möglich, anderenfalls sind komplizierte numerische Modelle zur Abschätzung nichtlinear-viskoelastischer oder plastischer Deformationen erforderlich, d. h. das Zusammenwirken von elastischem und viskosem Verhalten bei Kunststoffen und deren Abhängigkeit von Zeit und Temperatur ist nur dann verständlich zu beschreiben, wenn man sich auf den Bereich des linear-viskoelastischen Verhaltens beschränkt. Die lineare Viskoelastizität ist exakt nur für den Bereich infinitesimal kleiner Beanspruchungen definiert. Die Werkstoffeigenschaften sind also nur von der Zeit, nicht jedoch von der Höhe der mechanischen Belastung abhängig. Dieses Verhalten wird als rein linear-viskoelastisches Werkstoffverhalten bezeichnet.
Praktische Auswirkungen der Viskoelastizität
Das viskoelastische Werkstoffverhalten von Kunststoffen wirkt sich generell bei jeder mechanischen Beanspruchung auf das Steifigkeits-, Festigkeits- und Verformungsverhalten aus, unabhängig davon, ob eine statische, quasistatische oder schwingende (oszillierende) Beanspruchung vorliegt. Besonders deutlich wird die praktische Auswirkung bei einen statischen Beanspruchung z. B. im Zug-, Druck- oder Biegeversuch als auch bei der Härtemessung. Infolge der Zeit- und Temperaturabhängigkeit der Deformation wird bei dieser Langzeitbeanspruchung das sogenannte Kriechen bzw. die Retardation oder die Spannungsrelaxation von Kunststoffen beobachtet [3]. Bei der quasistatischen Belastung z. B. im Zugversuch tritt eine Überlagerung der zügigen Beanspruchung durch Kriech- oder Relaxationseffekte ein, welche eine starke Zeit- und Temperaturabhängigkeit der mechanischen Kennwerte des Zugversuchs hervorruft. Im Gegensatz zu metallischen Werkstoffen sind bei Kunststoffen unter schwingender Beanspruchung nicht nur die dynamischen Kennwerte zeit- und temperaturabhängig, sondern auch die experimentellen Randbedingungen wie Schwingungsamplitude, Mittelspannung oder -dehnung als auch die dynamische Steifigkeit.
Bei der statischen Beanspruchung von Kunststoffbauteilen wirken sich demzufolge die Langzeiteffekte Kriechen (Retardation) und Spannungsrelaxation (Relaxation) besonders deutlich auf die Dimensionsstabilität und das Beanspruchungsniveau aus [3]. Das bedeutet, dass infolge des Kriechens unter einer mechanischen Beanspruchung an einem Kunststoffbauteil eine Verlängerung bei gleichzeitiger Verringerung der Dicke und Breite eintritt, wodurch insbesondere bei Kombination mit anderen Werkstoffen Probleme bei der Maßhaltigkeit, Passung und Funktionalität auftreten können, wobei dieser Effekt durch die thermische Längenänderung überlagert werden kann. Bei Bauteilen, die unter einer mechanischen Vorbeanspruchung montiert werden, wird infolge der Relaxation eine Lockerung der Verbindung registriert werden, die ebenfalls die Funktionalität beeinträchtigen kann. Beide Effekte verstärken sich bei erhöhten Temperaturen, wodurch nicht nur Änderungen des Designs eintreten sondern auch das Versagen des Bauteils verursacht werden kann.
Wird ein prismatischer Prüfkörper als einfaches Bauteil einseitig eingespannt und durch eine Masse m beansprucht, dann ergibt sich das zeitliche Deformationsverhalten entsprechend Bild 1.
Kriechen der Kunststoffe
Kriechen bedeutet dabei die Zunahme der Deformation bzw. der Dehnung unter einer konstanten Beanspruchung.
Bild 1: | Schematische Darstellung des Kriechens unter konstanter Belastung |
Mit der Applizierung der Masse m am Prüfkörper wird eine entsprechende Kraft F an der Einspannung angezeigt und eine Spannung σ0 im Prüfkörper hervorgerufen, die voraussetzungsgemäß größer als der elastische Grenzwert sein soll. Die sich spontan und unverzüglich einstellende Verlängerung des Prüfkörpers ΔLel zum Zeitpunkt 2 ist bei Bezug auf die Ausgangslänge die Dehnung ε0 oder εel. Wird die Last bis zum Zeitpunkt 3 gehalten, dann wird eine weitere Verlängerung bzw. Zunahme der Dehnung registriert, die dem werkstoffspezifischen Kriechen entspricht. Nach der Entfernung der Masse stellt sich die elastische Deformation spontan zurück (Zeitpunkt 4), womit der scheinbare Eindruck einer bleibenden (plastischen) Deformation hervorgerufen wird. Nach einer hinreichenden Erholungszeit hat sich die linear-viskoelastische, bzw. zeitverzögerte elastische Verformung (Recreep) jedoch zurückgestellt, so dass der undeformierte Ausgangszustand wieder erhalten wird.
Relaxation der Kunststoffe
Spannungsrelaxation bedeutet die Abnahme der Spannung in einem Prüfkörper oder Bauteil unter einer konstanten Deformation. Spannt man also einen prismatischen Prüfkörper mit der Ausgangslänge L0 beidseitig ein (Bild 2) und verlängert den Prüfkörper um den Betrag ΔL, dann stellt sich zum Zeitpunkt 2 an der Messuhr eine Kraft F ein, die im Prüfkörper spontan die elastische Dehnung ε0 und die dazugehörige Spannung σ0 hervorruft.
Bild 2: | Schematische Darstellung der Relaxation unter konstanter Verformung |
Wird die Deformation über eine definierte Zeitspanne konstant gehalten, dann beobachtet man eine Abnahme der Kraft bzw. der Spannung, die der Spannungsrelaxation entspricht. Fährt man die Universalprüfmaschine in den Ausgangszustand zurück ohne die untere Einspannung zu lösen, dann wird die ursprüngliche Einspannlänge erhalten. Aufgrund der beidseitigen Einspannung wird dann im Prüfkörper eine Druckspannung (siehe: Druckversuch) aufgebaut, die sich bis zum Zeitpunkt 5 aber allmählich abbaut. Ein ähnlicher Effekt wird auch beim Einspannen von Prüfkörpern speziell in Parallelspannklemmen beobachtet, wo dann auch eine Druckspannung entsteht, die sich langsam abbaut oder über die Prüfmaschine kompensiert wird. Falls die untere Einspannklemme jedoch geöffnet wird, entsteht keine Druckspannung und der Prüfkörper nimmt den Initialzustand wieder ein.
Linear-viskoelastisches Werkstoffverhalten
Das Linear-viskoelastische Verhalten ist durch die Kombination von linear-elastischen und linear-viskosen Mechanismen darstellbar. In der klassischen Mechanik verwendet man zur besseren Beschreibung mechanische oder elektrische Analogiemodelle. Dabei wird in der Regel für das elastische Verhalten eine Feder und für das viskose Verhalten ein Dämpfer verwendet. Werden diese Grundelemente in Reihe geschaltet, erhält man im einfachsten Fall das MAXWELL-Modell und bei Parallelschaltung das VOIGT-KELVIN-Modell womit das Relaxations- und Retardationsverhalten der Kunststoffe vereinfacht beschrieben werden können. Der elastische Anteil bewirkt grundsätzlich eine spontane, begrenzte, reversible Verformung, während der viskose Anteil eine zeitabhängige, unbegrenzte, irreversible Verformung bewirkt. Der viskose und elastische Anteil sind bei verschiedenen viskoelastischen Materialien jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt und die Art des Zusammenwirkens differiert. Komplexere Modelle zur theoretischen Beschreibung des viskoelastischen Verhaltens sind das Zener-, Lethersich-, Jeffreys- und das Burgers-Modell [1].
Literaturhinweise
[1] | Lüpke, T.: Grundlagen mechanischen Verhaltens. In: Grellmann, W., Seidler, S. (Hrsg.): Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, München (2015) 3. Auflage S. 91/92, (ISBN 978-3-446-44350-1; siehe AMK-Büchersammlung unter A 18) |
[2] | https://de.wikipedia.org/wiki/Viskoelastizit%C3%A4t (letzter Zugriff am 06.02.2023) |
[3] | Bierögel, C.: Biegeversuch an Kunststoffen. In: Grellmann, W., Seidler, S. (Hrsg.): Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, München (2015) 3. Auflage, S. 147–158 (ISBN 978-3-446-44350-1; siehe AMK-Büchersammlung unter A 18) |