Rissverzögerungsenergie
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Rissverzögerungsenergie
siehe auch: Instrumentierter Kerbschlagbiegeversuch und IKBV Typen von Schlagkraft-Durchbiegungs-Diagrammen)
Definition und Aussagegehalt
Die Modifizierung von Kunststoffen mit dem Ziel der Verbesserung des mechanischen Eigenschaftsniveaus erfolgt technisch mit anorganischen Füllstoffen wie z. B. mit Kreide, Talkum und Glaskugeln oder mit Fasern, wie z. B. Kurzglasfasern (E-Glas) oder C-Fasern. Dabei ist die sich ausbildende Struktur in der Matrix-Zusatzstoff-Grenzfläche von entscheidender Bedeutung. Zur Beeinflussung dieser Grenzflächeneigenschaften werden häufig Haftvermittler eingesetzt, die physikalische und/oder chemische Wechselwirkungen in der Grenzfläche induzieren. Eine sensitive Methode zur Erfassung der Änderungen im Deformationsverhalten in der Grenzfläche stellt der instrumentierte Kerbschlagbiegeversuch (IKBV) dar, wobei in den Schlagkraft(F)-Durchbiegungs(f)-Diagrammen sogenannte Rissverzögerungsenergien AR auftreten.
Diese Rissverzögerungsenergien charakterisieren eine Verminderung der Rissausbreitungsgeschwindigkeit und sind Ausdruck eines dominierenden stabilen Risswachstums. Damit ist eine Bewertung der Zähigkeit mit Konzepten der Linear-elastischen Bruchmechanik nicht mehr möglich. Dies erfordert zunächst die Quantifizierung der Rissverzögerungsenergie und in der Folge die Ermittlung von Risswiderstandskurven (R-Kurven) zur Beschreibung des qualitativ unterschiedlichen Werkstoffverhaltens.
Im Hinblick auf die Verwendung von konventionellen Kennwerten der Kerbschlagzähigkeit zur Charakterisierung von Änderungen des Deformationsverhaltens in der Grenzfläche wird deutlich, dass mögliche Fehlinterpretationen nicht nur aus der hinlänglich bekannten Tatsache (siehe: Instrumentierter Kerbschlagbiegeversuch), dass
- große Kräfte und kleine Verformungen (Durchbiegungen) unter Umständen die gleiche Kerbschlagarbeit wie eine kleine Kraft und eine große Verformung liefern,
sondern dass zusätzlich
- die ermittelte Kerbschlagarbeit sich aus ganz verschiedenen Energieanteilen zusammensetzt, die unterschiedlichen Mechanismen zugeordnet werden müssen.
Anwendungsbeispiele aus der Werkstoffentwicklung
PA/GF-Faserverbundwerkstoffe – Einfluss des a/W-Verhältnis
Im Bild 1 sind die Schlagkraft(F)-Durchbiegungs(f)-Diagramme von PA/GF-Faserverbundwerkstoffen (siehe: Kurzfaserverstärkte Verbundwerkstoffe) dargestellt, wobei das Kerbtiefe(a)-Prüfkörperbreite(W)-Verhältnis variiert wurde. Der Zusammenhang zwischen Schlagkraft und Durchbiegung wird mit zunehmenden a/W-Verhältnis nichtlinearer, die maximale Schlagkraft Fmax nimmt ab und die Durchbiegungen fmax und fGY nehmen zu.
Bild 1: | Schlagkraft(F)-Durchbiegungs(f)-Verhalten im IKBV bei Ausbildung von Rissverzögerungsenergien in PA-Glasfaser-Verbundwerkstoffen für die a/W-Verhältnisse: (a) 0,2, (b) 0,3 und (c) 0,45 |
Aus den Teilbildern a bis c von Bild 1 wird deutlich, dass die Rissverzögerungsenergie eine sensitive Größe zur Bewertung des Deformationsverhaltens darstellt, aber als Bewertungskenngröße ungeeignet ist, da sie auf Grund der Geometrieabhängigkeit (a/W-Verhältnis) keine Werkstoffkenngröße darstellt (siehe: Geometriekriterium) und somit zwar zur Qualitätskontrolle, aber nicht als Zielgröße in der Werkstoffentwicklung eingesetzt werden kann.
PE-Kreide-Verbunde – Einfluss eines Haftvermittlers
In Bild 2 werden die Schlagkraft(F)-Durchbiegungs(f)-Diagramme, registriert mit Hilfe des instrumentierten Kerbschlagbiegeversuches, eines PE-HD-Kreideverbundes und eine mit Stearinsäure modifizierten PE-Kreide-Verbundes mit gleichem Füllstoffvolumenanteil (φv = 0,15) dargestellt (siehe auch: Teilchengefüllte Kunststoffe).
Mit dem Einsatz von oberflächenmodifizierten Zusatzstoffen (Haftvermittler) ändern sich die Anforderungen an die Auswertekonzepte zur Beschreibung des Zähigkeitsverhaltens (siehe: Erkenntnisniveauebenen der Bruchmechanik), da es im Werkstoff nicht mehr zu einer dominierenden instabilen Rissausbreitung kommt, was im F-f-Diagramm durch den fehlenden ausgeprägten Kraftabfall nach Fmax und der Ausbildung von AR dokumentiert wird.
Bild 2: | Schlagkraft(F)-Durchbiegungs(f)-Verhalten im IKBV bei Ausbildung von Rissverzögerungsenergie in PE/Kreide-Verbunden: (a) niedriger Haftvermittlergehalt und (b) optimaler PE/Kreide-Verbund |
Die J-Integralkennwerte wurden mit der Auswertemethode von SUMPTER/TURNER ermittelt. Im Bild 2 ist zu erkennen, dass bei gleichen Risszähigkeitskennwerten als Widerstand gegenüber instabiler Rissausbreitung JId von 2,6 Nmm-1 sehr große Unterschiede in der Rissverzögerungsenergie auftreten können. Die Kenntnis der Rissverzögerungsenergie hat eine außerordentliche praktische Bedeutung, da dieser Energieanteil offenbar eine Zähigkeitsreserve darstellt.
PP-GF-Verbunde – Einfluss einer Fasermodifizierung
Das Bild 3 zeigt den Einfluss einer Fasermodifizierung mit einem Haftvermittler (HV) auf das Zähigkeitsverhalten von GF-verstärkten Polypropylen. Der Fasergehalt des PP-GF-Verbundes betrug φv = 0,13 und die eingesetzten Haftvermittler 0,2 % , 0,5 % und 1 % HV.
Bild 3: | Schlagkraft(F)-Durchbiegungs(f)-Diagramme für PP-GF-Verbunde mit (a) 0 %, (b) 0,2 %, (c) 0,5 % und (d) 1 % Haftvermittler HV |
Die F-f-Diagramme zeigen nach Erreichen von Fmax nicht vernachlässigbare Rissverzögerungsenergien (engl.: Crack Propagation Energy). Bis zu einem Haftvermittlergehalt von 0,5 % kommt es zu einer Zunahme der maximalen Schlagkraft, die maximale Durchbiegung erhöht sich mit zunehmenden HV und die Rissverzögerungsenergieanteile weisen ein Maximum bei 0,2 % Haftvermittler auf. Bei einem Haftvermittlergehalt HV > 0,2 % wird eine deutliche Abnahme der spezifischen Rissverzögerungsenergie bei gleichzeitiger Erhöhung der Rissöffnungsverschiebungsgeschwindigkeit (siehe: Erkenntnisniveauebenen der Bruchmechanik) festgestellt (Bild 4).
Bild 4: | Zusammenhang zwischen J-Werten, spezifischer normierter Rissverzögerungsenergie, Rissöffnungsverschiebungsgeschwindigkeit und Haftvermittler Konzentration |
Die J-Integralwerte zeigen jedoch erst bei 0,5 % HV eine wesentliche Anhebung des Zähigkeitsniveaus.
Auf Grund der unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die sich zum einen aus der Betrachtung des Werkstoffverhaltens vor Erreichen von Fmax und zum anderen nach Erreichen von Fmax ergeben, ist eine bruchmechanische Bewertung nach den beschriebenen herkömmlichen Methoden nicht mehr gegeben und es muss der Übergang zur Kennwertermittlung bei stabilem Risswachstum erfolgen, um eine Quantifizierung der energiedissipativen Prozesse mittels bruchmechanischer Werkstoffkenngrößen (siehe: Bruchmechanik) zu ermöglichen.
Die Aufnahme von dafür erforderlichen Risswiderstands(R)-Kurven wird unter Risswiderstandskurve – Experimentelle Methoden erläutert.
Mikrofraktographische Untersuchungen an den PP-GF-Verbunden haben gezeigt, dass die Erhöhung der Energiedissipation mit Faser-pull-out und starker Fibrillierung der Matrix unter Ausbildung zipfelartiger Strukturen (siehe: Rampen, Schollen und Stufen) verbunden ist (Bild 4) (siehe auch: Bruchmodell faserverstärkte Kunststoffe und Faser-Matrix-Haftung).
Literaturhinweise
- Grellmann, W., Seidler, S.: J-integral Analysis of Fibre-reinforced Injection Moulded Thermoplastics. J. of Polymer Engineering 11 (1992) 71–101
- Seidler, S., Grellmann, W.: Zähigkeit von teilchengefüllten und kurzfaserverstärkten Polymerwerkstoffen. VDI-Fortschr.-Ber., VDI-Reihe 18 Nr. 92, VDI Verlag, Düsseldorf (1991)