Anisotropie

Aus Lexikon der Kunststoffprüfung
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Anisotropie

Unter dem Begriff Anisotropie versteht man im Allgemeinen in der Physik und im Speziellen in der Werkstoffkunde und -prüfung die Richtungsabhängigkeit werkstoffspezifischer Eigenschaften. Diese Richtungsabhängigkeit kann im Aufbau bzw. der Struktur der Werkstoffe, deren Herstellungsverfahren begründet sein oder wird konstruktiv bewusst als Gestaltungs- und Dimensionierungswerkzeug eingesetzt. Tritt keine Richtungsabhängigkeit auf, dann bezeichnet man den Werkstoff als isotrop. Diese Eigenschaft von Materialien steht nicht in Verbindung zur Heterogenität der Werkstoffeigenschaften.
Die Anisotropie kann unterschiedliche physikalische oder werkstofftechnische Eigenschaften betreffen, wie die optische, akustische sowie thermische Wellenausbreitungsgeschwindigkeit, die thermische Längenänderung, die elektrische Leitfähigkeit, Festigkeits-, Deformations-, Härte- und Elastizitätskennwerte oder auch bruchmechanische Kennwerte, welche das Rissinitiierungs- und -ausbreitungsverhalten beschreiben. So ist z. B. die optische Lichtstrahlung einer Glühlampe isotrop, aber die des Laserlichts ist anisotrop und die optische als auch akustische Doppelbrechung beruht grundsätzlich auf einer Anisotropie des Brechungsindex. Infolge der richtungsabhängigen Kristallitordnung in Metallen und teilweise auch in teilkristallinen Kunststoffen treten in diesen Werkstoffen Anisotropien der elastischen Eigenschaften wie z. B. des Elastizitätsmoduls, sowie der plastischen Deformierbarkeit und Duktilität z. B. der Tiefziehfähigkeit auf, denen in der konstruktiven Anwendung mit richtungsabhängigen Deformations- und Elastizitätsgesetzen Rechnung getragen wird. Eine natürliche Anisotropie weisen Gehölze infolge des biologischen Aufbaus auf, die man z. B. bei der Anwendung von Naturfasern oder der Konstruktion mit Hölzern berücksichtigen muss. Aufgrund der Holzanatomie treten differierende Eigenschaften in axialer, tangentialer und radialer Richtung auf, die fast alle physikalischen Eigenschaften von Holz beeinflusst. Betroffen sind hier insbesondere die Festigkeit, die Quellung und die Schwindung bei Trocknungsprozessen.

Bei ungefüllten oder partikelgefüllten Kunststoffen treten Anisotropien infolge der Verarbeitungsbedingungen im Spritzguss, Extrusion, Kalandrieren oder Blasformen von Folien bevorzugt durch die Orientierung der Makomoleküle in den amorphen Bereichen auf (Bild 1).

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Bild 1: Amorpher Kunststoff im a) unorientierten und b) orientierten Zustand

Der Grad der Anisotropie wird durch die erzeugte Orientierung bestimmt, ist mit einer Erniedrigung der Entropie verbunden und wird wesentlich vom Reckgrad beeinflusst. Die Anisotropie zeigt sich beispielsweise bei extrudierten Rohren oder Platten, wo in Extrusions- oder Kalandrierrichtung eine erhöhte Festigkeit und Elastizitätsmodul gemessen wird oder bei biaxial gereckten Blasfolien, die in den Hauptdeformationsachsen ein höheres Festigkeitsniveau aufweisen. Die Anisotropieeffekte sind durch eine Wärmebehandlung (Tempern) beeinflussbar, da sich bei Temperaturen nahe der Glastemperatur TG die Orientierung durch Schrumpfprozesse zurückstellt, wobei aber oftmals ein Verzug des betroffenen Bauteils eintritt. Die vorhandene Anisotropie kann bei derartigen Werkstoffen mit Hilfe der thermischen Ausdehnung in verschiedenen Richtungen oder bei transparenten Kunststoffe mittels optischer Prüfmethoden gemessen werden [1]. Der Anisotropiezustand kann aber auch mit mechanischen Prüfverfahren, wie z. B. der Knoop-Härte [2] oder dem Zugversuch eingeschätzt werden.

Bei kurz- oder langfaserverstärkten thermoplastischen Kunststoffen (z. B. Glas-, Kohlenstoff- oder Aramidfasern) wird der Grad der Anisotropie durch die Orientierung der Fasern in Belastungsrichtung bestimmt. Durch die Verarbeitungsbedingungen dieser Werkstoffe vorzugsweise im Extrusionsverfahren oder dem Spritzguss bildet sich im Querschnitt und in Längsrichtung ein Orientierungsprofil heraus, welches maßgeblich durch die Schichtstruktur der Faserverteilung (siehe: Glasfaserorientierung) beeinflusst wird [3] (Bild 2). Mit abnehmender Dicke der Spritzgussteile und zunehmender Fließweglänge erhöhen sich die Orientierung und der Grad der Anisotropie infolge der erhöhten Scherung der Schmelze im Angusskanal und Werkzeug [4].

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Bild 2: Orientierungsausbildung bei faserverstärkten Kunststoffen

Erfahrungsgemäß kann der Kennwertunterschied in der Längs- und Querrichtung bei PP/GF-Spritzgussteilen für die Zugfestigkeit den Faktor 2 und beim Elastizitätsmodul im Zugversuch bis zum Faktor 3 annehmen. Mit lokal auflösenden Prüfmethoden, wie der Laserextensometrie, lassen sich anhand der Heterogenität selbst in einem Prüfkörper noch größere Unterschiede nachweisen [5]. Prinzipiell ist der Zugversuch [6] als mechanisches Prüfverfahren sowie zerstörungsfreie Prüfmethoden wie z. B. die Ultraschalldoppelbrechung, Mikrowellen oder auch Wirbelstrom [7] zum Nachweis von Orientierungen und damit der Anisotropie an faserverstärkten Kunststoffen (FVK) geeignet.

Bei den faserverstärkten duroplastischen Kunststoffen wird oftmals gezielt eine definierte Anisotropie durch die Anordnung der Fasern oder Matten eingestellt, um die Anforderungen der Raum- und Luftfahrt- sowie Automobilindustrie bezüglich einer optimalen Leichtbauweise und Funktionalität zu realisieren. Dazu werden die Fasern z. B. als Endlosfasern (Rovings) im Pultrusionsprozess ideal in Längsrichtung orientiert oder es werden sogenannte Prepregs (vorimprägnierte Fasern) mit bekannter Faserorientierung definiert zur Hauptbelastungsrichtung der Bauteile eingelegt, fixiert und heiß im Autoklaven im closed oder open Mould ausgehärtet. Mit ähnlichen Technologien, wie Wickeln von Rohren oder Behältern oder dem Laminierverfahren, lassen sich auch Bauteile mit definierten Anisotropien, allerdings auch einem heterogenen Aufbau, herstellen, wobei die Fasern zumeist in der Hauptbelastungsrichtung orientiert sind. Bei Verwendung von Wirrfasergelege, unidirektionalen (UD) Gelegen parallel zu den Hauptbelastungsrichtungen oder mehrlagigen Laminatstrukturen (Bild 3) entstehen Faserverbunde mit einem sehr geringem Anisotropiegrad (orthotrop bei UD-Gelegen). Die höchsten Anisotropiegrade werden mit Rovingstrukturen erzeugt [8]. Als Matrixwerkstoffe sind nahezu alle reaktiven Harze geeignet, wobei aber meistens UP- oder EP-Harze für hochwertige Applikation verwendet werden. Als Verstärkungsmaterialen werden in diesen Fällen zumeist Glas- oder Kohlenstofffasern eingesetzt (siehe: Faserverstärkte Kunststoffe).

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Bild 3: Schematischer Aufbau eines 8-lagigen Laminats aus Prepregschichten [8]

Der Anisotropiegrad wird bei bekanntem Aufbau in der Regel über die elastischen Eigenschaften (Elastizitätsmodul und Poissonzahl) der Laminatschichten erfasst, so dass für Simulationsrechnungen eine modifizierte Steifigkeitsmatrix basierend z. B. auf der transversalen Isotropie benutzt wird, deren Grundlage durch die Theorie nach St. Venant begründet wird. Tiefergehende Informationen zum Konstruieren mit FVK sind in [9] enthalten. Messtechnisch ist der Anisoptropiegrad nur eingeschränkt zugänglich, da in Dickenrichtung des Laminats nur sehr kleine Prüfkörper nutzbar sind, wogegen die Längs- und Querrichtung mit Zugprüfkörpern gut untersuchbar ist.


Literaturhinweise

[1] Trempler, J.: Optische Eigenschaften. In: Grellmann, W., Seidler, S. (Hrsg.): Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, München (2015) 3. Auflage, S. 323–357 (ISBN 978-3-446-44350-1; siehe AMK-Büchersammlung unter A 18)
[2] Grellmann, W.: Härteprüfverfahren. In: Grellmann, W., Seidler, S. (Hrsg.): Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, München (2015) 3. Auflage, S. 193–213 (ISBN 978-3-446-44350-1; siehe AMK-Büchersammlung unter A 18)
[3] Menges, G, Geisbüsch, P.: Die Glasfaserorientierung und ihr Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften thermoplastischer Spritzgussteile – Eine Abschätzmethode. Colloid & Polymer Science 260 (1982) 1, S. 73–81
[4] Illing, R. T.: Bewertung von mechanischen und thermischen Eigenschaften glasfaserverstärkter Polyamid-Werkstoffe unter besonderer Berücksichtigung des Alterungsverhaltens von Bauteilen in der Automobilindustrie. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Dissertation (2015)
[5] Grellmann, W, Bierögel, C.: Laserextensometrie anwenden – Einsatzmöglichkeiten und Beispiele aus der Kunststoffprüfung. Materialprüfung 40 (1998) 11-12, S. 452–459
[6] Jäger, S.: Einfluss der Faserorientierung auf das mechanische Kennwertniveau medial und thermisch beanspruchter Polypropylen-Glasfaser-Verbunde. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Diplomarbeit (2010)
[7] Busse, G.: Zerstörungsfreie Kunststoffprüfung. In: Grellmann, W., Seidler, S. (Hrsg.): Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, München (2015) 3. Auflage, S. 461–528 (ISBN 978-3-446-44350-1; siehe AMK-Büchersammlung unter A 18)
[8] Altstädt, V.: Prüfung von Verbundkunststoffen. In: Grellmann, W., Seidler, S. (Hrsg.): Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, München (2015) 3. Auflage, S. 547–600 (ISBN 978-3-446-44350-1; siehe AMK-Büchersammlung unter A 18)
[9] Schürmann, H.: Konstruieren mit Faser-Verbund Kunststoffen. Springer Verlag, Berlin (2007) 2. Auflage, (978-3-540-72189-5)