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Werkstoffwissenschaft & Interdisziplinarität

Aus Lexikon der Kunststoffprüfung
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Werkstoffwissenschaft & Interdisziplinarität (Autor: Prof. Dr. H.-J. Radusch)

Der interdisziplinäre Charakter der Werkstoffwissenschaft

Die dynamische Weiterentwicklung der Wissenschaftsdisziplin der „Werkstoffwissenschaft“ basiert auf einem ausgeprägten interdisziplinären Charakter (siehe Bild), d. h. der direkten und indirekten Wechselwirkung mit zahlreichen naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen. Heraus lässt sich auch eine große Vielfalt im Wirkungsbereich der Werkstoffwissenschaft ableiten [1, 2].

Bild: Der interdisziplinäre Charakter der Werkstoffwissenschaft

Aus dem Bild wird auch die besondere Spezifik der Werkstoffwissenschaft ersichtlich, die einerseits das Bindeglied zwischen der Werkstofferzeugung und -modifizierung und der Fertigungs- bzw. Verarbeitungstechnik und andererseits zwischen Konstruktionslehre und der Werkstoffeinsatztechnik darstellt. Dabei entsteht zwischen den einzelnen Fachgebieten eine Vielzahl von dialektischen Wechselwirkungen. So ist z. B. die praktische Nutzung von Erkenntnissen der Materialographie (Metallographie, Plastographie, Keramographie) und Werkstoffprüfung/Bruchmechanik erst durch die Weiterentwicklung und Anwendung neuer Werkstoffe möglich geworden. Korrespondierend zur Werkstoffwissenschaft haben sich die Konstruktionslehre, die Werkstoffverarbeitung und die Werkstoffeinsatztechnik fest etabliert, was sich auch in den Studienplänen werkstoffwissenschaftlicher Studiengänge niederschlägt (siehe Werkstoffwissenschaft & Hochschulausbildung in Merseburg/Halle). Gegenstand der Einsatztechnik ist das Konstruieren mit ggf. aus anwendungstechnischen Anforderungen heraus modifizierten Werkstoffen, wobei für den Konstrukteur die Aufgabe darin besteht, die Dimensionierung und Auslegung von Formteilen, was heute mit Hilfe computergestützter CAD/CAM-Verfahren wie ANSYS oder CREO (früher pro/ENGINEER) erfolgt, mittels werkstoffwissenschaftlich fundierten und zuverlässigen Stoffdaten zu realisieren.

Innerhalb der Werkstoffwissenschaft bzw. Werkstofftechnik haben sich als eigene Wissensgebiete die Werkstoffprüfung und die Technische Bruchmechanik etabliert. Von zunehmender Bedeutung sind auch die in die Studienprogramme integrierten Disziplinen Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement, wobei unter Qualitätsmanagement die Gesamtheit der qualitätsbezogenen Tätigkeiten zu verstehen ist. Ein wesentlicher Bestandteil ist die Qualitätsprüfung, die selbst wiederum in vielfältiger Form erfolgen kann. Ein wichtiger, aber technisch schwierig zu realisierender Schritt besteht in der online-Integration von Prüfverfahren der Werkstoffprüfung in den jeweiligen Produktionsprozess zur optimalen Sicherung der Qualitätsanforderungen an das Produkt und die Prozessgestaltung. Die Werkstoffdiagnostik/Schadensfallanalyse beinhaltet das Zusammenwirken von Methoden zur Untersuchung der stofflichen Zusammensetzung (Werkstoffanalytik), des strukturellen Aufbaus, der mechanischen, thermischen, elektrischen und optischen Eigenschaften sowie der Reaktion mit der Umgebung. Besondere Fortschritte bezüglich des Erkenntnisgewinns werden bei der Weiterentwicklung der hybriden Methoden der Werkstoffdiagnostik [3–6], worunter die in-situ-Kopplung von mechanischen und bruchmechanischen Experimenten mit den immer mehr an Bedeutung gewinnenden zerstörungsfreien Prüfmethoden, wie z. B. der Schallemissionsanalyse (SEA), der Thermographie oder der Laserextensometrie verstanden wird. Ziel ist immer die Erhöhung der Aussagefähigkeit klassischer Prüfmethoden und die Ableitung von Möglichkeiten zur Quantifizierung von Schädigungszuständen bzw. Grenzwerten (siehe auch: Schadensanalyse VDI Richtlinie 3822) [3]. Wichtiger Bestandteil der ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung sind auch die Lehrgebiete Messtechnik und Automatisierungstechnik, aufgrund deren Weiterentwicklung sich neue Anforderungen an die Werkstoffprüfung im Qualitäts-, Sicherheits- und Umweltmanagement ableiten.

Die Lösung der umwelt- und klimapolitischen Probleme bei der Herstellung, Verarbeitung und Anwendung aller Werkstoffgruppen erfordert zukünftig eine noch stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit. Eine besondere Sensibilität ist hierbei den Polymerwerkstoffen beizumessen. Beim Einsatz von Polymerwerkstoffen sind die Eigenschaften gezielter auf den Anwendungsfall abzustimmen, um eine lange Lebensdauer der Erzeugnisse und eine hohe Recyclingfähigkeit zu gewährleisten. Das erfordert werkstoffwissenschaftlich fundierte Lösungen die nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit gewonnen werden können.

Eine große Bedeutung kommt dabei den modernen Methoden der Strukturaufklärung zu, die eine wichtige Basis für die Werkstoffentwicklung darstellt. Heute stehen solche Methoden wie z. B. röntgenographische Methoden, CT-gestützte Methoden, spektroskopische Methoden, kalorimetrische Methoden, Methoden der Elektronenmikroskopie und Atomic Force Mikroskopie (AFM) (siehe Registrierende Mikrohärte mit AFM) sowie kombinierte Methoden zur Verfügung, die eine komplette Aufklärung der Strukturhierarchie gewährleisten (siehe Hybride Methoden, Beispiele).

Für das wichtige Gebiet der mechanischen Eigenschaftscharakterisierung erfordert dies die Nutzung von modernen Methoden der Werkstoffdiagnostik [4, 5]. und der Mikro- oder Nanomechanik [7, 8].

Charakteristische Merkmale der Werkstoffwissenschaft

Charakteristische Merkmale der Werkstoffwissenschaft sind die Zugehörigkeit zu den Ingenieurwissenschaften, die Anwendung einer einheitlichen Betrachtungsweise für die verschiedenen Werkstoffgruppen sowie ihre starke Interdisziplinarität.

Zur Aufstellung von Struktur-Eigenschafts-Beziehungen und der Erklärung der Zusammenhänge müssen Erkenntnisse anderer naturwissenschaftlicher und technischer Wissenschaftsdisziplinen – wie bereits beispielbeispielhaft bzgl. der Festkörperphysik und der Festkörperchemie und oder auch der Fertigungs- und Einsatztechnik erläutert wurde – einbezogen werden.

Im Studium der Werkstoffwissenschaft sind die starke Praxisbezogenheit, zahlreiche Laborpraktika, Projektarbeiten sowie in der Regel an der Praxis ausgerichtete Bachelor- und Masterabschlüsse charakteristisch [9].

Beim Werkstoffeinsatz spielen materialökonomische Aspekte eine zentrale, ständig wachsende Rolle. Als Bewertungsgröße wird hier die Materialintensität betrachtet, die die Materialkosten ins Verhältnis zum Produktionsvolumen setzt. Durch eine Reihe von Maßnahmen, wie Substitution eines Werkstoffes, Verringerung der eingesetzten Menge, bessere Ausschöpfung der Eigenschaften, höhere Lebensdauer, Anwendung nacharbeitsfreier Herstellungsverfahren, Anwendung von Leichtbauprinzipien, geschlossene Werkstoffkreisläufe usw. kann diese Größe entscheidend beeinflusst werden.

Die Vielschichtigkeit der technischen Anwendungen von Werkstoffen und deren Einfluss auf die Entwicklung vieler Industriezweige kennzeichnen die dringende Notwendigkeit des interdisziplinären Charakters der Werkstoffwissenschaft.

Die zunehmende interdisziplinäre Ausrichtung der Werkstoffwissenschaft drückt sich z. B. in solchen Gebieten und Anwendungen wie Automobilindustrie, Luft- und Raumfahrt, in der Sensortechnik, in Roboterantrieben und Mikromanipulatoren oder in biomedizinischen Anwendungen aus. Prägnante Beispiele für derartige Werkstoffentwicklungen sind Formgedächtnismaterialien (Shape Memory Materials) [10, 11] und Smart Materials, die zielgerichtet auf Veränderungen der Betriebs- oder Umgebungsbedingungen (z. B. Temperatur, Medien und mechanische Beanspruchungen) ohne Regelung von außen reagieren [12].

Auch in neuen Lehrangeboten wird die Weiterentwicklung und Intensivierung der Interdisziplinarität der Werkstoffwissenschaft sichtbar. So bietet die https://www.fau.de/ [Universität Erlangen-Nürnberg] seit dem Studienjahr 2024/25 einen neuen interdisziplinären Bachelorstudiengang KI-Materialtechnologie an, in dem Materialwissenschaft und Werkstofftechnik, Naturwissenschaften und Informatik unter spezieller Berücksichtigung der Möglichkeiten, die die künstliche Intelligenz bietet, auf innovative Weise miteinander verbunden werden [13].

Siehe auch

Literaturhinweise

[1] Schatt, W. (Hrsg.): Einführung in die Werkstoffwissenschaft. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie (1972); siehe AMK-Büchersammlung unter L 3-1
[2] Schatt, W., Worch, H. (Hrsg.): Werkstoffwissenschaft. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie Stuttgart (1996); siehe AMK-Büchersammlung unter L 3-2
[3] Biermann, H., Krüger, L.: Moderne Methoden der Werkstoffprüfung. Wiley-VCH Verlag (2015); ISBN 978-3-527-33413-1; siehe AMK-Büchersammlung unter M 35
[4] Grellmann, W., Seidler, S. (Hrsg.): Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, 4. Auflage, München (2025); ISBN 978-3-446-44718-9; e-book ISBN 978-3-446-48105-3; siehe AMK-Büchersammlung unter A 23
[5] Blumenauer, H.: Werkstoffprüfung. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie. Leipzig (1975,1978); Stuttgart (1994); ISBN 978-3-342-00547-6; siehe AMK-Büchersammlung unter M 1 bis M 3
[6] Grellmann, W.: Neue Entwicklungen in der Werkstoffprüfung – Herausforderungen an die Kennwertermittlung. Deutscher Verband für Materialforschung und -prüfung, Berlin (2011); ISBN 978-3-9814516-1-0; ISSN 1861–8154; siehe AMK-Büchersammlung unter A 13
[7] Michler, G. H.: Mechanik–Mikromechanik–Nanomechanik. Vom Eigenschaftsverstehen zur Eigenschaftsverbesserung. SpringerSpektrum (2024); ISBN 978-3-662-66965-5; e-book: ISBN 978-3-66966-2; https://doi.org/10.1007/978-3-662-66966-2; siehe AMK-Büchersammlung unter F34
[8] Michler, G. H.: Werkstoffwissenschaft und Kunststoffe. Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste. Band 43, Forschungsbeiträge der Naturwissenschaftlichen Klasse, München (2024) 27–58; siehe AMK-Büchersammlung unter F 33
[9] Altenbach, H., Bachmann, T., Orzschig, W.: Neue Aspekte der werkstoffwissenschaftlichen Lehre. In: Leps, G., Kausche, H.: 40 Jahre Werkstofftechnik Merseburg. Selbstverlag (1990) S. 45–52; ISBN 3-86010-578-7; siehe AMK-Büchersammlung unter L 89
[10] Lendlein, A., Langer, R.: Biodegradable, elastic shape-memory polymers for potential biomedical applications. Science 296 (2002) 1673–1676
[11] Radusch, H.-J., Kolesov, I., Gohs, U., Heinrich, G.: Multiple shape-memory behavior of polyethylene/polycyclooctene blends cross-linked by electron irradiation. Macromol. Mater. Eng. 297 (2012) 1225–1234; https://doi.org/10.1002/mame.201200204
[12] Blumenauer, H.: Werkstoffe und Diagnosemethoden für adaptive mechanische Systeme. In: Leps, G., Kausche, H.: 40 Jahre Werkstofftechnik in Merseburg (1999). Selbstverlag, ISBN 3-86010-578-7 Inhaltsverzeichnis; siehe AMK-Büchersammlung unter L 89
[13] https://www.mat.studium.fau.de/studiengaenge/neu-ki-materialtechnologie/

Weblinks